Mikrokredite und soziale Wirkung: Was haben Oikocredit und Gullivers Reisen gemeinsam?

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Wie eine Idee aus dem 18. Jahrhundert auch heute noch Leben verändert.

Portrait Jonathan Swift (1667-1745)

Was haben Oikocredit und „Gullivers Reisen“ gemeinsam? Es mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, Oikocredit, eine Pionierin der nachhaltigen Geldanlage, mit Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ zu verbinden. Doch tatsächlich lässt sich die Geburtsstunde der finanziellen Inklusion – und insbesondere der Mikrokreditebis in diese Zeit zurückverfolgen. 

Gullivers Reisen: mehr als ein Reisetagebuch

Der Roman „Gullivers Reisen“ des irischen Schriftstellers und Geistlichen Jonathan Swift aus dem Jahr 1726 erzählt die Abenteuer von Lemuel Gulliver, einem englischen Chirurgen und Seefahrer, der auf seinen Reisen fantastische Länder besucht. Doch „Gullivers Reisen“ ist weit mehr als nur ein Abenteuerbericht: Es ist eine scharfsinnige Gesellschaftskritik. Swift nutzt die Erlebnisse seines Protagonisten, um unterschiedliche Aspekte von Politik, sozialer Ordnung und der menschlichen Natur zu hinterfragen.  

Neben der Erzählung über die Reisen von Gulliver ist das Werk eine starke Kritik an den sozialen Ungleichheiten der damaligen Gesellschaft. 

Kritik an sozialen Ungleichheiten

Swift war nicht nur als Romanautor aktiv, sondern verfasste auch Essays und politische Schriften. Besonders hervorzuheben ist sein 1729 veröffentlichtes satirisches Essay „A Modest Proposal“, das als eines der  provokantesten Werke der Weltliteratur gilt. In diesem Pamphlet bespricht Swift Themen wie Armutsoziale Ungleichheit und die mangelnde Empathie der Gesellschaft für weniger privilegierten Menschen an.

Wer war Jonathan Swift?

Jonathan Swift (1667-1745) war von 1713 bis 1745 Dekan der St. Patrick’s Cathedral in Dublin und eine einflussreiche Figur in der Literatur und im politischen Denken seiner Zeit. Sein Stil zeichnete sich durch Ironie und pointierte Satire aus, mit einem kritischen Blick auf die menschliche Natur und die Institutionen.

Swift legte den Grundstein für ein Kreditsystem, das über 100 Jahre hinweg Bestand hatte und zur Blütezeit ein Fünftel der irischen Bevölkerung mit Krediten versorgte.

Durch den Verkauf seiner Bücher und sein Amt als Dekan erlangte Swift ein beachtliches persönliches Vermögen, von dem er einen Teil zur Unterstützung von wirtschaftlich benachteiligten Menschen verwenden wollte.

Wie entstand die Idee zu Mikrokrediten?

In den 1720er Jahren richtete Swift mit 500 Pfund seines eigenen Vermögens einen Fonds ein und begann mit der Vergabe von zinslosen oder sehr niedrig verzinsten Darlehen zwischen 5 und 10 Pfund, die sich insbesondere an „arme fleissige Handwerker“ richteten. Die Bedingungen für ein Darlehen bei Swift waren dabei innovativ und strukturell fast identisch mit der modernen Mikrofinanzierung:

  • Die Kreditnehmer mussten wöchentliche Teilrückzahlungen leisten.
  • Für ein Darlehen mussten die Unterschriften von zwei Personen vorliegen, die den*die Darlehensnehmer*innen kannten und für die deren*dessen Bonität bürgten.

Swifts Fondsidee wurde von anderen sozial engagierten Persönlichkeiten in Irland schnell aufgegriffen. Zwei Jahre nach seinem Tod gründete die Dublin Musical Society aus den Einnahmen ihrer Aufführungen einen Darlehensfonds, der nach dem „System Swift“ organisiert war.

Schließlich wurde das Leihsystem zur Haupttätigkeit der Gesellschaft: Ende der 1760er Jahre vergab sie Darlehen an über 5 000 Personen.

Mikrofinanz in vielen Kulturen

Doch mikrofinanzähnliche Konzepte gab es auch schon wesentlich früher in verschiedenen Kulturen wie beispielsweise die Rotating Savings and Credit Associations (ROSCAs). ROSCAs funktionieren, indem eine Gruppe von Personen regelmäßig Geld in einen gemeinsamen Fonds einzahlt. Bei jedem Treffen erhält ein Mitglied den gesamten gesammelten Betrag. Diese Rotation setzt sich fort, bis jedes Mitglied einmal den Fonds erhalten hat. Diese Methode basiert auf Vertrauen und Zusammenarbeit und bietet eine einfache Möglichkeit, Geld zu sparen und Kredite zu erhalten, ohne auf formelle Bankinstitute angewiesen zu sein 

ROSCAs haben sich in verschiedenen Regionen unterschiedlich entwickelt. In Nigeria sind sie als „Esusu“ bekannt, in Kenia als „Chama“ und in Indien als „Chit Funds“. Trotz der unterschiedlichen Namen bleibt das Grundprinzip gleich. 

Wie ging es mit Mikrokrediten weiter?

Nachstehend finden Sie weitere wichtige Meilensteine, die zur Entstehung der Mikrofinanz, wie wir sie heute kennen, geführt haben. Sie ist neben der nachhaltigen Landwirtschaft, den erneuerbaren Energien und dem gemeinschaftsorientierten Ansatz einer der Schwerpunkte von Oikocredit

Die Geschichte der Mikrokredite

  • Mittelalter – In italienischen Städten leihen kirchliche Darlehensbanken bedürftigen Menschen gegen niedrigen Zins Geld
  • 1720er Jahre – Jonathan Swift führt in Irland Kleinkredite für wirtschaftlich benachteiligte Menschen ein und legt damit den Grundstein für Mikrokredite.
  • 1840-1860 – In Europa entstehen genossenschaftliche Kreditanstalten. Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch gründen Genossenschaftsbanken in Deutschland.
  • Ab 1900 – In Indien und Lateinamerika verbreiten sich Kleinkreditprogramme, um ländliche Gemeinden zu unterstützen.
  • 1940er Jahre – In BolivienPeru und Kolumbien nehmen die Gruppenkreditprogramme zu.
  • 1950-1960 – Es entstehen staatlich geförderte Mikrofinanzierungsprogramme, z.B. die Rural Credit Cooperatives of India.
  • 1971 – In Brasilien werden Mikrokreditprogramme zur Unterstützung von Kleinunternehmen eingeführt.
  • 1975Oikocredit wird im niederländischen Amersfoort gegründet und bietet die Möglichkeit, Geld ethisch anzulegen, um damit Frieden und soziale Gerechtigkeit weltweit zu fördern.
  • 1976Muhammad Yunus gründet die Grameen Bank in Bangladesch, Pionier der modernen Mikrofinanzierung.
  • 1980-1990Nichtregierungsorganisationen und Finanzinstitute weltweit setzen Mikrofinanzierung ein. Die Weltbank und die Vereinten Nationen unterstützen Mikrofinanzierungsprogramme.
  • 1997 – In Washington (USA) findet der erste Gipfel zur Mikrofinanzierung statt, auf dem globale Ziele für die inklusive Finanzwirtschaft festgelegt werden.
  • 2006 – Muhammad Yunus und die Grameen Bank erhalten den Friedensnobelpreis für ihre Arbeit im Bereich Mikrofinanzierung.
  • Seit 2010Digitale Mikrokredite entstehen: Mobile Banking und Fintechs erleichtern wirtschaftlich benachteiligten Menschen den Zugang zu Finanzdienstleistungen.

Soziale Ziele im Blick behalten  

Inzwischen haben auch klassische Banken und kommerzielle Mikrofinanzinstitutionen dieses Feld als attraktiven Markt entdeckt. Vor diesem Hintergrund ist es wichtiger denn je, die sozialen Ziele der Mikrofinanz im Blick zu behalten.  

Um verantwortungsvolle Mikrofinanz zu betreiben, müssen alle beteiligten Akteure das Wohl der Kund*innen im Blick behalten und sich an deren Bedürfnissen orientieren. Das ist ein großes Anliegen von Oikocredit: Als Graswurzel-Bewegung 1975 gestartet, setzt sich die internationale Genossenschaft damals wie heute für höchste Kundenschutzstandards ein, um dem eigenen Anspruch einer sozial verantwortlichen Mikrofinanz gerecht zu werden. Das Wohlergehen und die Bedürfnisse von wirtschaftlich benachteiligten Menschen stehen auch 50 Jahre nach der Gründung an erster Stelle der Geschäftstätigkeit. Oikocredit ist ihren Werten treu geblieben und verfolgt weiterhin das Ziel, weltweit soziale Gerechtigkeit zu fördern, indem sie Finanzmittel an Unternehmen im Globalen Süden vergibt, die eine positive soziale Wirkung erzielen.