Wie reich darf man sein?

Artikel

Die Debatte über wirtschaftliche Ungleichheit ist aktueller denn je. Bei Oikocredit befassen wir uns intensiv mit Armut – oder genauer: mit wirtschaftlicher Benachteiligung. Ein Blogbeitrag von Silvia Winkler.

Wie reich darf man sein?

von Silvia Winkler – Geschäftsführerin Oikocredit Förderkreis Hessen-Pfalz

Würden Sie sich als arm bezeichnen oder als reich? Oder vielleicht weder noch?

Die Debatte über wirtschaftliche Ungleichheit ist aktueller denn je. Bei Oikocredit befassen wir uns intensiv mit Armut – oder genauer: mit wirtschaftlicher Benachteiligung. Reichtum hingegen steht weniger im Fokus, dabei sind beide eng miteinander verbunden.

Genügend für alle?

Die Welt produziert ausreichend Nahrung für alle Menschen. Auch finanzielle Mittel gäbe es genug für alle, wenn das Weltsozialprodukt gleichmäßig verteilt wäre. Jeder Mensch – ob Kind oder Erwachsener, ob im Globalen Süden oder Norden – hätte dann ein jährliches Nettoeinkommen von mehr als 10.000 Euro.

In Indien oder Kenia ist eine solche Summe ein beträchtliches Einkommen, während sie in Ländern mit hohen Lebenshaltungskosten kaum ausreicht. Doch betrachtet man eine fünfköpfige Familie, bei der jedes Mitglied das volle Einkommen erhielte, würde selbst in Deutschland ein solides Haushaltseinkommen von 50.000 Euro entstehen.

Ein Blick auf das Vermögen in der Welt zeigt eine weitere Dimension der Ungleichheit. Das Weltnettovermögen – also alle privaten Vermögenswerte abzüglich aller Schulden – liegt bei rund 500 Billionen US-Dollar. Würde man dieses Vermögen gleichmäßig verteilen, erhielte jeder Mensch etwa 60.000 US-Dollar, umgerechnet rund 55.000 Euro. Für unsere fünfköpfige Familie ergäbe dies Rücklagen von 275.000 Euro.

Was bedeutet Reichtum?

Reichtum lässt sich schwer definieren. Einen interessanten Ansatz dazu stellt Prof. Christian Neuhäuser in seinem Buch „Wie reich darf man sein?“ vor. Dieser fragt danach, wie viel Geld über die Deckung der Grundbedürfnisse hinaus für Wohlstandsgüter verfügbar ist. Reichtum könnte demnach beginnen, wenn jemand doppelt so viel für Luxus ausgeben kann wie für das Nötigste. Würde man 1.500 Euro monatlich als Minimum für ein würdevolles Leben ansetzen, läge die Reichtumsgrenze bei 4.500 Euro Monatseinkommen.

Beim Vermögen könnte man von Reichtum sprechen, wenn die eigenen Ersparnisse die Grundbedürfnisse für mindestens drei Jahre sichern. Nach diesem Konzept wäre das ab rund 55.000 Euro.

Wie viel Reichtum ist vertretbar?

Die entscheidende Frage ist: Wie reich dürfen wir sein, ohne dass andere darunter leiden? Bei begrenzten Ressourcen bedeutet ein Überfluss auf der einen Seite einen Mangel auf der anderen. Ob Vermögen ein solches knappes Gut ist, kann man diskutieren. Oft scheint die Hoffnung vorzuherrschen, dass durch Wachstum, Reichtum steigen und gleichzeitig Armut reduziert werden kann. Es gibt dafür Beispiele. Aber es gibt noch mehr Beispiele, bei denen der Reichtum der einen zu Lasten der Armut anderer wächst. Ganz zu schweigen von Fragen, wie lange wir uns Wachstum von Vermögen noch leisten können, wenn die dafür benötigten Ressourcen limitiert sind. So führt uns diese Überlegung am Ende doch immer zu einer Verteilungsfrage.

Reichtum hinterfragen

Wie reich dürfen wir also sein, damit andere nicht arm bleiben? Wie wird Reichtum erworben? Wieviel wollen wir umverteilen? Und welche Verantwortung für mehr Gerechtigkeit tragen wir als Einzelne und als Gesellschaft?

Wir haben begonnen, diese Fragen intensiver zu diskutieren. Denn wenn wir zu einer gerechteren Welt beitragen wollen, müssen wir nicht nur Armut bekämpfen – sondern auch Reichtum hinterfragen.